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"Klingeling", hier kommt der Fußball!

Colin aus dem Medienteam des FC St. Pauli "luschert" für Euch in den Alltag unseres Lieblingsvereins rein. Was geht neben den schweißtreibenden Trainingseinheiten und dem Ligabetrieb so bei unseren Kiezkickern und dem Team dahinter? Jetzt wird wieder #Reingeluschert, bzw. dieses Mal #Reingelauscht.

Der Ball ist eng am Fuß. Mit kleinen Schritten nähert er sich Richtung gegnerisches Tor. Laute Rufe auf dem Platz und hinter dem Gehäuse sowie an der Seitenlinie vermischen sich in seinem Gedankenkosmos. Das runde Leder wechselt in blitzschneller Geschwindigkeit vom rechten, zum linken Fuß. Die gegnerischen Spieler wirken hilflos in seiner Nähe, wie Statisten, wie Marionetten, die an seidenen Fäden hängen. So sieht es aus, wenn Rasmus unnachahmlich mit dem Ball fast schon über dem Platz schwebend durch die Vielzahl an Beinen umhertänzelt. "Los, Rasmus. Jetzt ist der Weg frei. Geradeaus. Schieß", wird hinter dem gegnerischen Tor gerufen. Rasmus setzt aus sieben Metern einen satten Schuss an und trifft die Pille genau, die oben links im Winkel das Netz zum Einschlag bringt. Tor! Die Menge tobt und applaudiert.

"Wahnsinn, das sah ja aus wie bei Lionel Messi", ruft plötzlich einer der Schüler der Julius-Leber Schule, der neben mir das Spektakel auf der Fußballplatzanlage des FC St. Pauli Nachwuchsleistungszentrums am Brummerskamp mit bestaunt hatte. Tatsächlich hatten Rasmus fließende, kinderleicht wirkende Bewegungen mit dem Leder am Fuß und dem kraftvollen Abschluss etwas, das an den argentinischen Supperdribbler erinnert. "Lionel Messi Vibes", wie man im Jugendjargon auch sagen würde. Diese "Vibes" haben aber im Fall Rasmus etwas ganz Besonderes an sich, aus einem bestimmten Grund.

Rasmus Narjes ist nämlich blind – von Geburt an. Vollblind, um genau zu sein. Klassifizierung B1, wie man bei den Paralympics sagen würde. Für uns Sehende ein unvorstellbares Szenario, so den Alltag bestreiten zu müssen. Bei mir wird der teils nächtliche Gang zur Toilette im Halbschlaf schon zum Hindernisparkour mit hoher Stolper- und Gegenlauf-Gefahr. Rasmus hingegen beweist in eindrucksvoller Manier, seinen Alltag und auch noch den Sport Blindenfußball beim FC St. Pauli perfekt zu händeln – mit der Hilfe der Trainer, Betreuer*innen und eben mit dem Vertrauen und dem Training in die anderen Sinne.

"Das ist tatsächlich alles reine Übungssache, sich vermehrt auf sein Gehör-, Geruchs- und seines Tast-Sinnes zu verlassen. Die sind bei mir jetzt nicht von Anfang an stärker ausgeprägt gewesen als bei sehenden Menschen. Superkräfte, habe ich deshalb nicht", lacht Rasmus. Wobei das schon etwas vom Superhelden "The Flash" hat, wie er seine Whatsapp-Nachrichten einfach mal locker easy in sechsfacher Geschwindigkeit abhört, ich bin bei 1,5 schon teilweise überfordert. "Das schnelle Abhören habe ich mir damals in der Schule angeeignet, um besser im Unterricht mitzukommen", erklärt er. Rasmus, das sei an dieser Stelle erwähnt, ging immer auf öffentliche Schulen mit sehenden Klassenkamerad*innen und machte sein Abitur.

Genau das steht den Schüler*innen der Julius Leber Schule noch bevor. Die Jahrgangsstufe elf des Sportprofils bestaunt nicht nur wie ich die feinfüßigen Finessen des FC St. Pauli-Kickers, sondern erfährt sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, unter der Leitung von FCSP-Blindenfußball-Coach Wolf Schmidt und dessen Co-Trainer Jonas Dawid, wie der Blindenfußball funktioniert. Das alles fand am sogenannten "Respect-Day", dem Inklusionstag in der Kooperationsschule des Nachwuchsleistungszentrums unserer Kiezkicker statt. "Das Thema Diversität ist bei uns bereits sehr präsent. Jetzt wollten wir gerne die Schüler*innen für das Thema Inklusion sensibilisieren", betont die Klassenlehrerin Kim Höhne, die selbst acht Jahre lang als Linksaußen und Torhüterin in der Handballabteilung beim FC St. Pauli spielte.

Acht ist hier ein gutes Stichwort. Denn mit acht Jahren hatte Rasmus die Begeisterung für den Fußballsport für sich entdeckt. "Im Radio lief immer die Bundesliga und da hat mich das Fieber gepackt. Genau das, wollte ich auch können", betont der 21-jährige Jura-Student. Klar, an die Bundesliga-Show im Radio erinnere ich mich auch zu gut. Mit Uwe Bahn und dann reingeschaltet ins Stadion zu Sabine Töpperwien – legendär!  

In der Gemeinde Bispingen groß geworden, zog es ihn dann zum FC St. Pauli, mit dem Höhepunkt im Jahr 2017 Deutscher Meister im Blindenfußball zu werden. Rasmus stieg zum Nationalspieler auf, nahm an drei Europameisterschaften teil. "Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke die Nationalhymne zu hören", strahlt er über beide Ohren.

Zurück zum Trainingsgelände am Brummerskamp und der Frage, wie funktioniert Blindenfußball denn nun und worauf kommt es besonders an? Kurz erklärt, es ist ähnlich wie beim Futsal. Heißt: es gibt je vier Spieler*innen (gemischte Teams mit Männern und Frauen) und einen Torwart, der übrigens sehend sein kann. Das Spielfeld ist 20m x 40m groß, beide Halbzeiten dauern 20 Minuten. Klingt alles erstmal plausibel, es gibt aber natürlich auch ein paar Besonderheiten.

Zum einen: Klingeling, klingeling, klingelingeling, hier kommt der…? Fußball, richtig! Die Bälle beim Blindenfußball sind mit Rasseln ausgestattet, um für die blinden Sportler*innen wahrgenommen zu werden. Und zum anderen hat jedes Team zwei sogenannte (sehende) Guides, die an der Außenlinie und hinter dem jeweiligen gegnerischen Tor postiert ihre Anweisungen geben, damit die Fußballer*innen ihre Positionen und das eigene, sowie gegnerische Tor besser lokalisieren können. Heißt auch: Kommunikation ist das A und O im Blindenfußball!

Genau das merken die Schüler*innen der Julius Leber Schule und auch ich, als es in der Praxis auf dem Rasen mit lockeren Übungen losgeht. Jede/r Blindenfußballer*in hat neben einer Dunkelbrille auch einen Kopfschutz, um Zweikämpfe möglichst unfallfrei zu gestalten. Mit der Dunkelbrille tauche ich also ein, in eine ganz neue Welt. In Rasmus Welt.

Das Erste was mir auffällt ist, dass mir etwas schwindelig wird, weil ich null Orientierung habe – klar, ich muss mich ja jetzt auf andere Sinne verlassen und das ist komplett ungewohnt. Nach wenigen Schritten nehme ich Rasmus laute Stimme wahr, der laut und ständig wiederkehrend "Voy!" ruft. Mein Auslandssemester in Málaga sei Dank, das spanische Wort bedeutet übersetzt "ich gehe" und ist im Blindenfußball Hauptwort Nummer eins für alle Spielenden. "Jeder ist in Bewegung und um Zusammenstöße möglichst zu vermeiden, muss jeder, der in Bewegung ist, ob mit oder ohne Ball am Fuß 'Voy!' rufen", erklärt Rasmus. Tut man das nicht auf etwa drei Meter Entfernung als Faustregel, ist das sogar ein Foul. Also mit dem Wort "Voy!" im Mund watschel, so ist glaube ich der richtige Ausdruck bei meiner Gangart, drauf los und versuche mich von Rasmus und meiner Vorstellungskraft für die Situation leiten zu lassen. Von Meter zu Meter werde ich aber schneller und bekomme mehr Sicherheit, auch wenn es ungewohnt ist.

Dabei hatte ich das Wichtigste noch gar nicht im Petto, den Ball. Das Spielchen mit dem klingelnden Leder und ausgewählten Guides ist gar nicht so einfach, auch als Guide nicht. "Ein bisschen nach links", das ist dann doch Interpretationssache. "Man findet aber das richtige Feingefühl für die Situation, wann und wie und in welcher Form man richtig kommunizieren und reinrufen muss", erklärt Coach Wolf Schmidt, der auch sichtlich Spaß hatte, wie nach Anfangs kleinen und holprigen Schritten, die Schüler*innen sich von Mal zu mal steigerten und dann über erzielte Tore freuten. Auch Rasmus war begeistert. "Ihr seid alle sehr mutig gewesen. Alle haben großartig mitgezogen und sich darauf eingelassen. Mir hat es viel Freude bereitet."

Zum Abschluss durfte der Nationalspieler auch gegen drei und sogar vier Schüler*innen mit Dunkelbrille kicken. Und da waren sie dann, die besagten "Lionel Messi Vibes" oder sollten wir lieber sagen "Rasmus Vibes"? Ja, das klingt definitiv besser! ;-)

 

(ch)

Foto: FC St. Pauli

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